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Abenteuer Walz: Ich bin nur ein armer Wandergesell

Foto: Axel Heimken/ dpa

Wandergesellen "Zieh weiter, wenn der Nachbarshund nicht mehr bellt"

Heute hier, morgen fort - Hunderte junge Handwerker folgen einer Uralt-Tradition: Sie dürfen auf der Walz kein Geld für Schlafen oder Reisen ausgeben, und schon gar nicht nach Hause. Einblicke in eine Welt voller Geheimregeln.

Sein Wanderbuch trägt Ingo Alex, 27, immer an der Brust, unter Weste und Jackett: "Unersetzbar, alles andere kann ich mir kaufen. Es ist mein Heiligtum. Ich schlafe auch darauf." Das Büchlein enthält zig Fotos, handschriftliche Einträge und Stempel von Städten, in denen er schon war. So waren die vergangenen zweieinhalb Jahre seines Lebens, unterwegs kreuz und quer durch Deutschland, Österreich, die Schweiz.

Alex, gebürtiger Ulmer, ist gelernter Bierbrauer und Mälzer - der Einzige, der in Deutschland gerade auf der Walz ist. Die meisten der knapp 400 Wandergesellen seien Zimmerer, Tischler, Dachdecker oder Maurer, sagt Ludwig Hense, Präsident des Dachverbandes der Wandergesellen. Etwa 250 von ihnen sind in Gesellenvereinigungen organisiert, die anderen freireisend.

Ingo Alex hat gerade vier Wochen in einer Trierer Hausbrauerei gearbeitet. Nur anfangs war es mit der Arbeitssuche schwer, als er im März 2013 mit drei Unterhosen, drei Hemden und drei Paar Socken in seinem Bündel loszog. Weil Brauer fast nie auf die Walz gehen, sind Arbeitgeber auf Wandergesellen nicht eingestellt. 500 Brauereien habe er "abgeklappert", oft Absagen bekommen, erzählt Alex.

Inzwischen laufe es prima. Bei acht Brauereien konnte er schon anheuern, ob im bayerischen Riedenburg oder in Potsdam. "Ich wollte schon immer weg, was erleben und frei sein", sagt Alex. In den ersten drei Monaten begleitete ihn noch ein Altgeselle. "Er hat mir Tipps gegeben, wie man durchkommt, und die Regeln beigebracht."

Die Tippel-Regeln sind streng geheim

Davon gibt es viele, etwa dass Wandergesellen kein Geld fürs Schlafen und Reisen ausgeben dürfen. Darum tippeln sie meist zu Fuß oder per Anhalter. Oder dass sie in den ersten drei Jahren plus einen Tag nicht mehr nach Hause können - 50 Kilometer um den früheren Wohnort herum reicht die sogenannte Bannmeile. "Man darf nicht zurück, egal ob die Wäsche stinkt, die Füße schmerzen oder man keinen Bock mehr hat. Man soll lernen, selbst klarzukommen", sagt Alex. Für ihn kein Problem, "mir ist nie was passiert". Auch Geld brauche er kaum, höchstens mal für neue Schuhe: "Als Wandergeselle kann man von Luft und Liebe leben."

Seit Jahrhunderten schon gehen junge Handwerker auf Wanderschaft, inzwischen auch einige Frauen. Leicht erkennbar sind sie an der charakteristischen Kluft: Hose mit weitem Schlag, Weste, Jackett, dazu Hut und Wanderstock. "Die Gesellen müssen unverheiratet sein, ledig, unter 30 und im Besitz des Gesellenbriefes." Diese Voraussetzungen seien allgemein bekannt, erklärt Jens Brinkmann von der Rolandsschacht-Zunft für wandernde Bauhandwerker. "Und mit der Bahn fahren sollen sie auch nicht."

Die Regeln würden vor allem mündlich übermittelt; kaum eine Zunft oder Bruderschaft schreibe sie nieder. Die Statuten seien geheim, so Brinkmann: "Oft erfahren die Gesellen selbst erst Genaueres von anderen Gesellen auf der Reise."

Zimmermann Marc Heerich, 28, tippelt seit drei Jahren und ist weit herumgekommen. In Polen und Portugal war er schon, am Mittelmeer und in der Südarktis. Auf der Deutschlandkarte zeigt er den Bannkreis um seine sauerländische Heimatstadt Finnentrop. Am Ortsschild musste er damals Abschied nehmen und los, ohne sich noch einmal umzudrehen. "Das war wie ein Sprung aus dem Flugzeug", erinnert Heerich sich. Mit nichts als fünf Euro in der Tasche und seinem Bündel machte er sich auf, zurück blieben Freunde, Familie - und das Handy, ab sofort tabu.

"Mir brennt die Sohle schon"

Ein bisschen altmodisch klingt das und sehr romantisch. Heerich sieht es als "eines der letzten großen Abenteuer" (siehe Fotostrecke). Der Geselle von der Vereinigung der Freien Vogtländer weiß jetzt, wie es sich anfühlt, frei zu sein. Er arbeitet heute hier, morgen dort und lässt sich einfach treiben. "Vom ersten Tag an geht es um die Wurst", sagt Heerich, "wo esse ich, wo schlafe ich?" Mal musste er im Freien übernachten, mal in einem Bankraum. In Kuba stand er komplett ohne Geld da, mitunter knurrte der Magen.

Die klassische Montur sei "im Winter viel zu kalt, im Sommer viel zu heiß" - aber auch ein Türöffner in der Fremde. Sie schaffe Vertrauen. Denn wer die Kluft trägt, muss sich stets ehrbar verhalten, "darauf haben wir unser Wort gegeben". Also werde "einem unheimlich viel geholfen auf der Walz", so Heerich. "Das erste Bier in der Kneipe geht meist auf den Wirt. Auch zum Essen wird man oft eingeladen."

Mit leuchtenden Augen berichtet der Zimmermann von seinen Erlebnissen. Und doch sehnt er sich so langsam nach seiner Heimat, nach Familie und Freunden. Wenn ihn ein Schiff mitnimmt, will er noch nach Island. Und Ende des Jahres dann zurück ins Sauerland. Wieder weg kann Heerich im Notfall immer noch: "Ich weiß ja jetzt, wie's geht."

Bierbrauer Ingo Alex hat vom Leben als Freireisender noch lange nicht genug, im Gegenteil: "Mein Ziel ist es, nach Südamerika und einmal um die Welt zu kommen." Er will um zwei Jahre verlängern. "Mir brennt die Sohle schon, ich muss wieder auf die Straße", sagt Alex. "Wenn der Postbote dich mit Namen grüßt und der Nachbarshund nicht mehr bellt - dann ist es Zeit weiterzuziehen."

Irena Güttel, Birgit Reichert, dpa/jol